Ein Leben mit HIV: Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Die Zeiten, in denen HIV und Aids ein allgegenwärtiges Gesellschaftsthema waren, scheinen vorbei. Aufwändige Plakat-Aktionen oder TV-Spots gibt es nur noch selten. Doch das Virus ist in den letzten Jahrzehnten weder verschwunden noch harmloser geworden: Nach den jüngsten Zahlen des Robert-Koch-Instituts Berlin leben in Deutschland etwa 88.400 Menschen mit HIV. Einer von ihnen ist Tobias K.*
„Die Tabletten habe ich damals einfach mit Wodka runtergespült“ – an die Zeit nach seiner HIV-Diagnose hat Tobias* keine positiven Erinnerungen. Nachdem der gebürtige Regensburger von seiner Krankheit erfuhr, litt er jahrelang an intensiven Nebenwirkungen. Vor mittlerweile 20 Jahren begab er sich wegen eines Bandscheibenvorfalls in ärztlich Behandlung. Als sich eine Krankenpflegerin an einer an ihm verwendeten Infusionsnadel stach, bot man ihm einen HIV-Test an. Dieser war positiv, in seinem „Kopf ging danach erst einmal alles quer“. Heute weiß Tobias, dass er sich zwei Jahre davor beim ungeschützten Verkehr mit einem HIV-positiven Sexpartner infiziert hat. Damals war der Wahlmünchner 35. Von einem Leben mit HIV hatte er, wie auch Sarah und Christine*, keine Ahnung.
Sarah war 50, als sie von ihrer Infektion mit dem HI-Virus erfuhr. Heute ist die gebürtige Berlinerin 61 – und hat „das Schlimmste überstanden“. Schlimm war vor allem die Zeit nach der Diagnose. Nachdem sie über mehrere Jahre hinweg mit wiederkehrenden grippeähnlichen Symptomen zu kämpfen hatte, riet ihr ein Bekannter einen HIV-Test durchzuführen. Als feststand, dass ihr Lebensgefährte sie zwei Jahre zuvor angesteckt hatte, verfiel sie in einen Schockzustand, „dann kam ein ganz fürchterliches Down“, blickt die 61-Jährige zurück. Ähnlich erging es Christine. Bei der 54-Jährigen wurde das Virus vor 16 Jahren bei einem großen Blutbild entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war das Virus bereits mehr als ein Jahr in ihrem Körper. Unspezifische Symptome einer Verkühlung und angeschwollene Lymphknoten hatten ihren Internisten lange stutzig gemacht. Das Blutbild brachte schließlich Klarheit – und die Diagnose „HIV-positiv“ ans Licht. Auch für sie war dieser Befund entsetzlich. „Das erste Jahr danach verlief wie ein Film, der vor meinen Augen abgelaufen ist.“ Mit Sarah teilt Christine auch die Art der Infektion. Nachdem ihr langjähriger Ehemann sich bei einem Seitensprung mit dem Virus infizierte, übertrug er die Infektion auf sie. Beide Frauen haben bis heute keinen Kontakt zu ihren Ex-Partnern, zu groß sitzt der Schmerz und die unendliche Enttäuschung, die mit den Erinnerungen an die Männer verbunden sind.
Ins Vertrauen nahmen alle drei nach der Diagnose nur ganz wenige Menschen. „Man wägt stark ab, wem man es sagt und wem nicht“, sagt Tobias, der seinen Eltern erst viele Jahre nach der Diagnose von seiner Leidensgeschichte erzählte. Sarah hat sich vor einigen Jahren öffentlich im Fernsehen geoutet, die eher verschlossene Christine vermeidet es diese Seite ihres Lebens in die Öffentlichkeit zu tragen. Nur einige enge Freundinnen wissen über ihre Krankheit Bescheid: „In meiner Familie weiß es bis heute niemand.“
Kein unbeschwertes Leben mehr möglich
Auf die Diagnose folgte für alle drei der unmittelbare Therapiebeginn. Durch die starke Medikation hielten auch Nebenwirkungen Einzug in ihren Lebensalltag. Übelkeit, häufiges Erbrechen, Magen- & Darmprobleme, Schlappheit und das Wissen, dass man mit jeder Medikamenteneinnahme gegen eine bis heute unheilbare Krankheit kämpft, machten sich breit. Auch gegenwärtig sind alle verfügbaren Präparate zur Behandlung von HIV mit einer ganzen Palette an Nebenwirkungen verbunden. Tobias hat sie alle durchgemacht. Hinzu entwickelte sich bei ihm eine Phobie gegen Tabletten, die er aufgrund der hohen Anzahl einzunehmender Pillen bekam. Der Architekt arbeitete damals häufig mehr als 80 Stunden pro Woche, versuchte sein Leid im Alkohol zu ertränken und versetzte sich in seiner wenigen Freizeit durch Drogen in einen Rausch. Heute ist bei ihm nicht nur das körperliche Unwohlsein, sondern auch die Medikamentendosis gesunken. Dank moderner Medikamente ist seine Viruslast bis unter die Nachweisgrenze zurückgegangen, er fühlt sich vital und ist persönlich in der HIV-Aufklärung tätig. Nicht nur den Ärzten, Psychotherapeuten und einem geregelteren Lebensstil hat dies zu verdanken, auch die Therapiemethoden sind nicht mehr mit denen von vor 20 Jahren vergleichbar. Davon profitieren auch Sarah und Christine. Beide müssen täglich eine Medikamentendosis einnehmen und sind seit Jahren unter der Nachweisgrenze des Virus. Während Sarah bis auf beginnende Nierenprobleme recht gut mit den Nebenwirkungen umgehen kann, kämpft Christine oft mit Antriebslosigkeit.
Verkehrte Normalität
Tobias, Sarah und Christine leben ein durchaus als unbeschwert zu bezeichnendes Leben. Ganz in den Hintergrund tritt die Krankheit jedoch nie. Bei Arztbesuchen sind Betroffene immer wieder mit unangenehmen Situationen konfrontiert. Das Thema Partnerschaft und Sexualität ist ebenfalls belastet. „Wenn man sich verliebt, steht man vor der Frage, wann man es dem anderen sagt. Aber es gibt keinen richtigen Zeitpunkt“, sagt Tobias, der versucht, sich durch seine Arbeit vom Privatleben abzulenken versucht. Für Christine ist eine feste Beziehung derzeit kein Thema, Sarah lebt ebenfalls als Single. Bei seltenen sexuellen Kontakten erwähnen beide ihre Krankheit bewusst nicht. Die Verhütung mit Kondom ist dabei immer Pflicht. „Wenn ich heute mit jemandem Sex habe, dann nehme ich ein Kondom, primär weil ich mich schützen will und nicht weil ich ihn schützen will“, führt Sarah aus.
Aufklärungsbedarf sehen alle drei Betroffenen vor allem bei der Gefahr der Ansteckung. Nach wie vor sei vielen nicht bewusst, dass HIV weder über Hautkontakt noch über Speichel übertragen werden kann. Bei Menschen, bei denen das HI-Virus aufgrund der medikamentösen Therapie im Blut nicht mehr nachweisbar ist, ist die Ansteckungsgefahr sogar bei Geschlechtsverkehr nicht mehr vorhanden.
Gefährliche Verharmlosung
Die Verharmlosung von HIV als chronische aber heute gut behandelsbare Krankheit lehnen sie jedoch ab. Die Langzeitnebenwirkungen der medikamentösen Therapien seien nicht bekannt, die Patienten sind trotz guter Behandlungsmethoden gewissermaßen stets dem Tod nahe. „Wie sieht es in ein paar Jahrzehnten für uns aus? Wie sieht es im fortgeschritteneren Alter aus? Wo gehen wir dann hin?“, fragt sich Sarah manchmal an Tagen, wenn sie solche Sorgen überkommen.
In die Zukunft blicken alle drei aber positiv – und genießen ihr Leben mit der Erkrankung viel bewusster. Tobias will sich weiter aktiv im Kampf gegen HIV engagieren, Christine hofft auf eine weitere Verbesserung der Medizin und Sarah schickt ihren Sohn regelmäßig zum HIV-Test. Für sie ist Vorsorge das Allerwichtigste, „damit man danach nicht das schlimme Elend hat.“
*Namen von der Redaktion geändert.
Bildquelle: © choreograph – envato.com
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